Rede von Pavel Kohn am 19. April 2015 zur 70 Jahre Gedenkfeier in Nammering

 

Liebe Anwesende,

 

in meinem Vortrag soll ich über mein eigenes Leben sprechen, was mit den Geschehnissen, die hier vor 70 Jahren passierten zusammenhängt. Ich wurde in einer jüdischen Familie 1929 in Prag geboren und habe die Hitlerzeit als Kind und Jugendlicher  wie durch ein Wunder überlebt. Fast 3 Jahre war ich inhaftiert und meine ganze Verwandtschaft mit Ausnahme einer Cousine, die aus dem polnischen Ghetto Lodz geflüchtet war, ist in den Konzentrationslagern umgekommen.

 

Darüber hinaus habe ich selbst eine ähnliche Todesbahnfahrt, die hier für fast 800 Häftlinge so tragisch geendet hat, mitgemacht. Nur war es nicht am Ende der schrecklichen Hitlerzeit, sondern ein bisschen früher ein paar  Monate. Trotzdem was ich Ihnen jetzt über mein Leben  während dieser Zeit erzählen werde, könnte ziemlich ähnlich zu dem sein, was die Opfer des damaligen Verbrechens hier erlebt haben. Ich habe mich in der Buchenwald Gedenkstätte erkundigt und habe erfahren, dass es so genannte politische und auch jüdische  Gefangene waren, die hier ihren Tod fanden. Ich denke, dass sie meistens älter waren als ich. Jüdische Kinder meines Alters hat es am Ende des Krieges schon nicht viele gegeben. Die meisten sind umgekommen. Dass ich einmal, wie man heute sagt, als Zeitzeuge auftreten werde, daran habe ich selbst nach meiner Befreiung aus dem KZ Buchenwald nie gedacht. Trotzdem habe ich mein heutiges Alter erreicht, was sicher auch meiner Frau und meinen Kindern zu verdanken ist.

 

Die Sterblichkeit der Häftlinge in den Konzentrationslagern war hoch und die der jüdischen Kinder besonders. In Tschechien hat man eine Studie gemacht und festgestellt, dass 15.000 Kinder  meines Alterns durch das Ghetto Theresienstadt  gegangen sind und nur ungefähr 150 davon zurückkehrten.  Man soll sich dabei sagen wir eine kleine Dorfschule mit vier Klassen oder eine Reihe von 100 Kindern vorstellen. Und aus dieser Reihe bleibt nur ein Schüler stehen, alle anderen sind weg, vernichtet, verschwunden. Der Weg der tschechischen Juden in die Vernichtung ging schrittweise voran. Durch meine Schilderung will ich jetzt bei Ihnen nicht Mitleid erwecken, aber vielleicht ist es bei solcher Gelegenheit nicht falsch darüber zu sprechen, was Menschen anderen Menschen antun können.

 

Als ich nicht einmal 10 Jahre alt war, im März 1939, besetzte die deutsche Wehrmacht , wie Sie wahrscheinlich wissen, die Tschechoslowakische Republik  und es wurde dort ein Protektorat Böhmen  und Mähren errichtet. Hier wurden bald ähnliche Lebensbedingungen zur Realität, wie  sie in Deutschland herrschten. Und am schwersten hat es die Jugend getroffen. Mein Vater wurde nur deswegen, weil er Jude war, gekündigt.  Bald darauf wurden alle jüdischen Kinder und auch ich und mein um 2 Jahre älterer Bruder aus der Schule ausgeschlossen.

 

Alle Juden mussten einen gelben Davidsstern auf der oberen Bekleidung auf der linken Brust tragen. Und es war strengstens verboten, mit den Nichtjuden zu verkehren und umgekehrt.  Zwei solchen mutigen Leuten  habe ich später nach der Wende meine tschechischen  Bücher, die später ins Deutsche übersetzt wurden, gewidmet. Sie betreffen den tschechischen christlichen Humanisten und Pazifisten Přemysl Pitter und seine Mitarbeiterin, die Schweizer Erzieherin  Olga Fiel (?)  und sie werden später von mir noch etwas über sie erfahren. Die Verfolgung der Juden wurde nach der Besetzung immer massiver. An erster Stelle wurden die Nazis wie in Deutschland auch den Besitz der Juden an sich bringen. Man hat ihre Häuser, Geschäfte und Betriebe beschlagnahmt, verkaufen durften sie sie nicht. Bankkonten gesperrt, alle Gegenstände und Gold und Silber sogar Essbestecke mussten sie abgeben.

 

Es ist fast unmöglich alles zu nennen, was uns nicht erlaubt war. Zuerst durften sich die Juden nicht mehr als Juristen und Ärzte in allen Stellen der öffentlichen Verwaltung und in öffentlichen Anstalten uns Institutionen betätigen. Später hat man sie auf allen besser bezahlten Beschäftigungen verjagt. Wir mussten unser Radio wie auch Vaters Schreibmaschine und Nähmaschine  meiner Mutter abgeben, und das Telefon wurde uns gesperrt. Juden durften keine Skiausrüstung, keine Woll- und Pelzbekleidung und keine Musikinstrumente besitzen. Sie durften nicht ihren Wohnsitz wechseln, mussten jeden Tag um 8 Uhr abends  zu Hause sein, durften auf keinen Fall Prag, aber auch alle anderen Ortschaften in denen sie wohnten verlassen. In ein anderes Land auszuwandern war gleich nach dem Einmarsch der deutschen Truppen fast unmöglich.

 

Als Kinder sind wir oft mit unserer Mutter nachmittags in eine Parkanlage in unserer Nähe gegangen. Auf einmal war es uns verboten, Juden durften nun keine Grünflächen in der Stadt betreten, manche Straßen und Gassen waren uns untersagt. Wir durften nur nachmittags zwischen 15 und 17 Uhr einkaufen gehen, verschiedene Lebensmittel konnten wir gar nicht kaufen, weil wir keine Bezugsscheine bekamen, z.B. Obst, Käse, Süßwaren, Geflügel, Kaffee, Honig, weiße Brötchen usw. Später waren alle Fleischsorten verboten; ich könnte noch lange fortfahren. Wir durften kein Kino, keine Theater, Konzerte besuchen. Zum Friseur durften die Juden zuerst nur zwischen 8 und 10 Uhr in der Früh, später gar nicht. Wir durften nur in gewissen Abteilen der Straßenbahn fahren. Und wenn sie voll waren, durften wir gar nicht erst einsteigen. Im Gegenteil: der Schaffner hatte in diesem Falle die Pflicht, alle Juden aufzufordern, die Tram zu verlassen. Und Wer konnte sich widersetzen? Wir alle waren doch mit dem gelben Stern gekennzeichnet und leicht herauszufiltern.

 

Das alles erzählte ich, weil man sagen könnte, dass  gerade durch diese Kleinigkeiten Auschwitz, Buchenwald, Dachau und andere Konzentrationslager schon hinter der nächsten Straßenecke zu sehen waren. Nein! Nein! Niemand hat es gesehen, niemand hat es geahnt. Wenn es so gewesen wäre, hätten unsere Eltern eher Selbstmord begangen, als abzuwarten, was mit uns geschieht. Auf einmal gab es in unserer Familie große Aufregung. „Transporte“ war das meist wiederholte bis dahin selten gehörte Fremdwort. Manche von unseren Bekannten und Verwandten wurden vorgeladen und mussten mit mehreren anderen Leuten jüdischen Glaubens irgendwohin wegfahren.

 

Unsere Familie war ziemlich groß; mein Vater hatte vier Geschwister und meine Mutter fünf. Viele von ihnen waren verheiratet und manche hatten auch schon Kinder in meinem Alter. Niemand von ihnen mit Ausnahme, wie ich schon gesagt habe, meine Cousine hat die Konzentrationslager überlebt. Auch meine beiden Großmütter – schon sehr alte Frauen – sind mit den Transporten  gegangen und irgendwo umgekommen. Am 8. September 1942 kamen wir mit dem Transport BF in Theresienstadt, einer alten Garnisonstadt, wo ein Ghetto errichtet wurde. Bis heute habe ich meine damalige Transportnummer nicht vergessen. Sie lautete 676. Die SS-Leute haben dort über die jüdische Selbstverwaltung regiert, die ihre Befehle durchsetzen musste.

 

Der sogenannte Ältestenrat, der aus Juden bestand, hatte sich zum Ziel gesetzt besonders die Kinder und Jugendlichen vor den Schikanen zu bewahren und ihnen das Leben so weit es nur ging zu erleichtern. Die Erwachsenen habe es in Theresienstadt sehr schwer gehabt. Meistens wohnten sie – wie auch meine Eltern – Männer und Frauen separat in großen Kasernensälen oder auf den Dachböden dieser riesigen Anwesen, die weder abgedichtet noch isoliert waren, und wo im Winter schreckliche Kälte und im Sommer unerträgliche Hitze herrschten. Das größte Problem im Ghetto war der ständige Hunger. Obwohl die Kinder bessere Rationen bekamen als die Erwachsenen, war es immer zu wenig und der Nährwert des Essens war minimal. Fast jeden Tag konnten wir uns am Abend mit den Eltern treffen, die tagsüber körperlich schwer gearbeitet haben. Und die brachten uns immer etwas mit und behaupteten, dass sie es irgendwo außergewöhnlich beschafft hätten. Schon damals wusste ich, dass dies eine fromme Lüge war und dass es Teil ihrer eigenen Ration oder sogar die ganze war. Aber gegessen haben wir es trotzdem.

 

Unser Hunger hat sich als stärker erwiesen als alle Liebe und Rücksichtnahme. Was uns in Theresienstadt hart getroffen hat, war das baldige Ableben meines Vaters. Er schuftete in einem Holzlager, erlitt einen Leistenbruch, musste operiert werden und starb 49 Jahre alt. Mit meiner Mutter und meinem Bruder wurden wir im Mai 1944 nach Auschwitz-Birkenau geschickt. Die Fahrt in den Viehwaggons dauerte 2 oder 3 Tage; angekommen sind wir in der Dunkelheit. Der Waggon war so voll, dass es fast keinen Platz zum Sitzen gab. Wir hatten kein Wasser und fast nichts zu Essen. Es hat so schrecklich gestunken, weil es nur einen Eimer gab, in den man die Notdurft erledigen konnte. Es waren Alte, Kranke, Kinder, Babys dabei. Als der Zug endlich zum Stehen kam, haben sie die Türen mit großem Getöse geöffnet, und SS-Männer, die draußen mit Hunden, Gewehren und Stecken standen, schrien „raus! Raus! Alles liegen lassen, raus raus raus! Jede Familie hatte in dem Waggon noch irgendwelche Sachen, die sie aus Theresienstadt mitgenommen hatte. Alles blieb dort und wir sind, so gut wie wir es schafften, herausgesprungen oder einfach herausgefallen. Diese Szene kennt man jetzt aus vielen Filmen, aber wenn man sie am eigenen Leib erlebt, ist es etwas, was man bis zum Ende seines Lebens nicht vergisst.  

 

Wir kamen alle ungefähr 5.000 Leute – ungefähr so viele wie der hiesige Transport aus Buchenwald Richtung Dachau – ins Wagen namens B2B. Das war ein sogenanntes Theresienstädter Familienlager BIIB (mehr erfahren) speziell für Transporte aus Theresienstadt. Alle blieben wir zusammen, Männer, Frauen und Kinder. Warum dies so geschah, darüber gibt es verschiedene Theorien, mit denen ich Sie jetzt nicht belasten möchte. Nur so viel soll gesagt werden: im September 1943 kam der 1. Transport aus Theresienstadt  hier an – 5.000 Leute, von denen fast alle, die bis dahin noch am Leben blieben, mit Ausnahme von eineiigen Zwillingen, die sich Dr. Mengele für seine Versuche reservierte, am 7. März 1945 vergast wurden. Es war wahrscheinlich die größte massenhafte Hinrichtung der Geschichte.

 

Der 2. Theresienstädter Transport kam im Dezember 1943 und im Mai 1944 kamen wir dort an. Man hat vermutet, dass jeder Transport eine Frist von 6 Monaten bekam und danach würden alle vergast. Jemand aus der sogenannten Lagerschreibstube hat aus den Transportlisten das Wort „Sonderbehandlung“ gelesen, was wohl diesen Ablauf bedeuten sollte. Kann sich jemand vorstellen, wie eine solche Vermutung auf uns wirkte.

 

Als Neuankömmlinge wurden wir bald am linken Unterarm tätowiert.  Ich bekam die Nummer  A299 , die bis heute zu sehen ist. Wir mussten uns nun nur noch mit unseren Nummern melden. Unsere Namen wurden nicht mehr gebraucht. Wir wohnten in hölzernen Baracken, die ursprünglich für Pferde bestimmt waren. An Stelle von 42 Pferden waren in jeder einige hundert Leute auf vierstöckigen Pritschen so dicht untergebracht, dass wenn sich jemand in der Nacht umdrehen wollte, die ganze Reihe geweckt wurde. Und wenn einer nachts auf die Latrine musste, war es eine Katastrophe, umso mehr als von den Lagerinsassen wegen der schrecklichen hygienischen Verhältnisse bald viele Durchfall bekamen.

 

Jeden Tag lagen neue Leichen hinter den Baracken, nachte Leichen, weil die Kleider so kostbar waren, dass man sie ihnen gleich abnahm. Im Vergleich war Theresienstadt ein Sanatorium und Auschwitz-Birkenau die Hölle. Gleich bei der nächtlichen Ankunft, als uns die SS aus dem Waggon auf den Appellplatz jagte, wo wir dann nach einigen Stunden auf die Baracken verteilt wurden, haben uns seltsame magere Gestalten, ehemalige Theresienstädter, die wir trafen, haben gesagt: „Hier ist der Arsch der Welt“. Nur durch den Kamin kommt man hier weg. Alle werden wir vergast und durch den Kamin fliegen. Es war allgemein bekannt, dass im Lager immer wieder Transporte mit vielen tausend Menschen ankommen und keiner wusste, wohin sie verschwanden. Bald haben wir es selbst gesehen. Tag und Nacht die rauchenden Schornsteine der Krematorien, manchmal schlugen sogar Flammen aus ihnen hervor, wenn ihre Kapazität weit überschritten wurde und das geschah oft. Und das alles war begleitet von dem furchtbaren Gestank von verbranntem Fleisch.

 

Nach einigen Wochen wurden wir endgültig von unserer Mutter, die in einer Frauenbaracke ihr Schlafstelle hatte, getrennt. Das Familienlager BIIb wurde aufgelöst. Wohin sie bei dessen Liquidierung gekommen ist oder ob sie unmittelbar darauf in der Gaskammer den Tod fand, habe ich nie erfahren. Mit meinem Bruder Karel haben wir die Selektion überstanden und wurden auf die bessere Seite, die nicht den sofortigen Tod bedeutete, geschickt. Da zwischen den Baracken standen in der schwarzen eleganten SS-Uniform Dr. Mengele mit seinem Adjutanten und wir mussten der Reihe nach einzeln vor ihn treten, Habachtstellung einnehmen und melden, wie alt wir sind und welchen Beruf wir haben. Jemand hat mir geraten, ich solle mich älter machen. Es wurde angeblich nicht einzeln kontrolliert, und einen Beruf erfinden, der für den Krieg nützlich erscheinen könne. „18 Jahre, Maschinenschlosser“ rief ich und war erfolgreich. Bei dieser Selektion waren wir alle nackt; und nicht nur wir, sondern auch unsere Väter, Schwestern und  Mütter. Herr Mengele wollte genau sehen, wer es verdiente, noch am Leben zu bleiben.

 

Auf den Ladeflächen der LKWs wurden wir ins KZ Blechhammer überführt. Da mussten auch wir Kinder schwer arbeiten. Man hat dort einen riesigen Betrieb gebaut, in dem aus Kohle Benzin erzeugt wurde. Er gehörte zu dem Konzern IG Farben. Der tägliche Weg zur Arbeitsstätte betrug hin und zurück etliche Kilometer. Karel, mein Bruder, bekam Furunkel an den Beinen und konnte die Entfernung nicht bewältigen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich krank zu melden und er wurde im Krankenrevier aufgenommen. Am nächsten Tag, als ich ihn am späten Abend nach der Arbeit suchte, war er da und in ein wenig besserer Verfassung. Am übernächsten war zu meiner Überraschung  die Krankenbaracke leer. Man sagte mir, dass alle Kranken abtransportiert worden waren. Dass das Ziel die Gaskammer war, erfuhr ich erst nach dem Krieg von einem jüdischen Arzt, der damals dort arbeitete und überlebte. Mit gerade 15 blieb ich nur auf mich selbst gestellt zurück.

 

Aus Blechhammer führte Anfang 1945 mein Weg weiter. Eines Tages – die Ostfront näherte sich rasch – werden wir aus dem Lager herausgejagt und unter Aufsicht der SS und der Wehrmachtsposten mussten wir mit unbekanntem Ziel Tag und Nacht marschieren. Wer dazu nicht mehr imstande war und zurückblieb, wurde erschossen. Ich habe damals etwas, wenn ich heute darüber nachdenke, den andern gegenüber nicht gerade Rücksichtsvolles gemacht. Mit all mir noch verbliebenen Kräften überholte ich den ganzen Tag die geschlossenen Reihen vor mir, weil mir klar war, dass wenn ich stolpere oder mich ein bisschen verlangsamen würde, man mich töten würde. Mein Selbsterhaltungstrieb hat mir die Kraft dazu gegeben.

 

Der Todesmarsch dauerte etwa 2 Wochen und wir haben, wie ich heute weiß eine Entfernung von 150 bis 200 km zu Fuß! Zurückgelegt. Nach KZ Großrosen gelangt wurden wir in offenen Kohlenwagen der Reichsbahn nach Buchenwald gebracht und dort im schrecklichen Kleinen Lager einquartiert. Unter dramatischen Umständen wurde dieses KZ am 11. April 1945 von der amerikanischen Armee befreit. Der weitere Transport  wurde mir – wer weiß warum – erspart.

 

Erst einige Tage nach dem Prager Aufstand im Mai 1945 gelang es mir mit einem Bus des Roten Kreuzes durch das zerbombte Deutschland nach Prag zurückzukehren.  Ich wog bei lebendigem Leibe nur wenig über 30 kg. Der Bus hielt oben am Wenzelsberg, es war schon spät am Abend, und wir stiegen aus.  Es waren ein paar Leute da, die auf ihre Angehörigen warteten. Ich blieb auf dem Gehsteig stehen. Wohin gehen, wenn es kein Wohin gibt? Ich ging zum Hauptbahnhof, in dessen Haupthalle leider alle Bänke besetzt waren. Ich legte mich auf das kalte Pflaster, deckte mich mit der Decke aus Buchenwald zu und als Kopfkissen diente mir die Trittfläche einer Personenwaage, die zufällig noch frei war. Und damit fing mein neues Leben an.

 

Als Zugabe will ich noch über einen interessanten Menschen – oder besser gesagt – über eine Gruppe von Menschen berichten, die ich schon anfangs erwähnt habe. Bald nach meiner Rückkehr habe ich erfahren, dass es in der Nähe von Prag Erholungsheime für Kinder, die aus dem Konzentrationslager zurückkamen, gibt. Ich fuhr hin. Der Initiator dieser Hilfsaktion war der tschechische christliche Humanist, Pädagoge und Pazifist Přemysl Pitter. (mehr erfahren) Es kamen nicht nur Jungen und Mädchen aus Prag hierher, sondern auch Kinder aus der Slowakei aus Karpato Russland aus Polen und anderswo her, Kinder jüdischer Abstammung, die auf der Suche nach etwas Wärme und Verständnis waren. Man hat sie dort nicht nur mit Essen versorgt, sondern auch mit liebevoller Aufmerksamkeit, Freundlichkeit und Fürsorge, von der sie in den Jahren davor so wenig erhalten hatten. Onkel Přemysl, wie man ihn nannte und seine Mitarbeiter haben für die Kinder und mit ihnen zusammen verschiedene Programme veranstaltet, ihnen in verständlicher Weise gute Beispiele aus der Bibel oder aus dem Leben berühmter Leute erzählt, mit ihnen über ihre Erfahrungen und Sehnsüchte gesprochen.

 

Ich erkrankte dort schwer an Lungenentzündung und wurde dort gesund gepflegt. Neben den jüdischen hat sich Přemysl Pitter auch um deutsche Kinder, die er in erbärmlichem Zustand in tschechischen Nachkriegsinternierungslagern gefunden hatte, gekümmert, ihre Verwandten oder für sie Pflegeeltern gesucht und sie mit jüdischen Kindern zusammenzuführen versucht. Mit ihm und seiner Mitarbeiterin Olga (Filz), die beide in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem (mehr erfahren) einen Baum in der sogenannten Allee der Gerechten erhielten, eine Auszeichnung für jene Menschen, die den Juden unter Einsatz des eigenen Lebens in der Naziherrschaft geholfen haben  und ihren ehemaligen Zöglingen habe ich mich literarisch auseinander gesetzt. Zwei dieser Bücher wurden auch in deutscher Übersetzung veröffentlicht. Sie heißen „Mein Leben gehört nicht mir“  und  „Schwester der Hoffnung“. Das zweite Buch ist auch schon in hebräischer Fassung verlegt worden.

 

Übrigens Přemysl Pitter hat auch die höchste deutsche Auszeichnung für seine Verdienste um deutsche Kinder in den 70er Jahren von dem Präsidenten Heinemann erhalten und sein 100stes Lebensjubiläum wurde 1995 von UNESCO als Kulturereignis des Jahres  gefeiert. Die ihm gewidmeten Bücher habe ich geschrieben, weil ich ehren wollte, was ich an Přemysl Pitter so geschätzt habe und was auch Sie sicher schätzen: die Menschlichkeit, Nächstenliebe vom Glauben begleitet. Und ich habe sie auch gegen das Vergessen geschrieben, damit man nicht nur die schrecklichen Ereignisse im Gedächtnis behält, damit sie sich nie mehr wiederholen, sondern auch von dem Guten, dem Hoffnungsvollen und Positiven erfährt, damit es sich möglichst oft wiederholt. Abschließend direkt noch etwas zu der heutigen traurigen Veranstaltung. Die die es betrifft sind nicht mehr da und können sich nicht bedanken. Und so bleibt es an mir, es zu tun. Ich danke Ihnen für die Gedenkfeier und auch für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Vom Tonband abgeschrieben von Nikolaus Saller